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BolivienHerrliche Berge, sonnige Höhen, Bergvagabunden sind wir…
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Villazón – Sucre – PotosíAmeisenstrassen und defilierende Hausfrauen
Spätestens beim Grenzübergang waren die letzten Zweifel ausgeräumt, dass wir hier zu einem neuen Abschnitt unserer Reise gestartet waren. Einer Ameisenschar gleich schleppten Männer jeden Alters und auffallend viele, traditionell gekleidete Frauen in farbigen Tüchern Unmengen von Lebensmitteln auf ihren Rücken über die Grenze. Im Laufschritt tanzten riesige Bündel voller Reis, Milchpulver und Coca Cola über die Brücke nach Bolivien. So sparten sich die Importeure saftige Zölle, die Waren wurden entsprechend billiger verkauft und all die flinken Ameisen hatten eine, wenngleich sehr strenge Arbeit. Angesichts dessen drückten die Zöllner wohl beide Augen zu und bekamen sicherheitshalber bestimmt auch ab und zu ein kleines halblegal importiertes Präsentchen.
Aus- und Einreise waren trotz Menschenschlangen hüben und drüben kein Problem. Es ist immer wieder praktisch, wenn man nicht, wie die Töfffahrer, von Büro zu Büro pilgern und sich dem Papierkrieg für motorisierte Zweiräder stellen muss. Die Strasse auf bolivianischer Seite war gesäumt von Wechselstuben und Geschäften aller Art. Hier gab es sie wieder, die mobilen Handy-„Telefonzellen“, die UN-Landcruiser, die farbigen Märkte, die klapprigen Busse. Wir kamen nicht umhin, in vielem das farbige, chaotische und pulsierende Afrika zu sehen. So vieles kam uns vertraut vor – Bolivien hatte uns bereits voll in Beschlag genommen. Wir hatten noch ein paar Stunden Zeit, bevor der Bus losfuhr und wir schauten uns im Städtchen um, setzten uns auf die Plaza und schwatzten mit den Leuten, die uns genauso interessant fanden, wie wir sie.
Unser Tandem teilte sich den knappen Platz auf dem Dachträger mit einer kompletten Wohnungseinrichtung und etlichen Säcken und Kisten voller Schmuggelgut. Wenn das nur gut kommt. Wir waren uns solches definitiv nicht mehr gewohnt. Die gut fünfzehnstündige Fahrt nach Sucre im erstaunlich bequemen, aber doch nicht gerade luxuriösen Bus, wurde sehr staubig und kalt. Die Sicht trübte sich und unsere Flimmerhärchen hatten mächtig viel zu tun. Während Madagaskar die schlechtesten Strassen Afrikas hatte, konnte Bolivien diese zweifelhafte Auszeichnung für sich in Südamerika beanspruchen. Wir holperten stundenlang der Schotterstrasse entlang, ohne anzuhalten. Erst nachdem es bereits dunkel geworden war, machten wir eine Pause. Nicht etwa, um was zu essen, die Chauffeure zogen es vor, den Bus mitten im Nirgendwo, statt in der Nähe eines Restaurants zu reparieren. Im Licht eines Natel-Displays wurde während Stunden am Motor gezimmert, bis die Weiterfahrt angetreten werden konnte. Jetzt hatten aber auch die Fahrer Hunger und wollten bei der nächsten Posada einkehren. Doch da meuterte die Mannschaft, der Bus habe ja bereits so viel Verspätung, jetzt sollen sie gefälligst durchrasen. Uns war’s egal, wie immer hatten wir uns mit Vorräten eingedeckt. Erfahrung macht schlau.
Morgens um neun kamen wir unterkühlt und reichlich auf den Felgen in Sucre, der formellen Hauptstadt Boliviens an. Bereits auf dem Weg ins Zentrum mussten wir einige Umwege kurven. Die Strassen waren voll von Leuten und Majoretten in kurzen Röcken und langen Stiefeln strömten zur Plaza. Was war denn heute bloss los? Bei einem kurzen Interview mit einem Zeitungsfritzen erfuhren wir, dass am nächsten Tag Día de la Patria sei und heute und morgen Defilees durch die Strassen zögen. Da hatten wir ja wiedermal das grosse Los gezogen! Aus der geplanten Siesta wurde folglich nichts, wir nahmen uns nicht mal die Mühe uns umzuziehen oder zu duschen, stellten bloss schnell Velo und Gepäck ins Hotel und stürzten uns mit Fotoapparat bewaffnet ins Gestürm.
Heute schien der grosse Tag der Schulen zu sein. Von den Schülern der Colegios, in schicken Uniformen und von stolzen Bannerträgern angeführt, über die Sekretärinnenschule in Stöckelschuhen, der Schule für Krankenschwestern, in weissen Kitteln und Birkenstöcken natürlich, Informatiker-, Mechaniker- und Bäckerschulen, schlicht, jede Ausbildungsstätte war vertreten und marschierte im Gleichschritt durch die Gassen. Aufgelockert wurde das Bild durch Majorettengruppen, die im Rhythmus der Marschmusikkapellen ihre Stäbe herumwirbelten. Der Strom an Lehrern und Lernenden wollte nicht mehr aufhören und für uns war nicht bloss der Umzug interessant, sondern, vielleicht sogar noch mehr, das Publikum am Strassenrand. Alte, Frauen und Männer, teilweise auf mitgebrachten Klappstühlen sitzend, Mütter, Kinder, Glacéverkäuferinnen, Popcorn- und Empanadaverkäufer. Es war ein wildes Durcheinander. Nach einer Salteña (süsse, etwas gar kartoffellastige Empanada) stahl sich Brö in ein Touristencafé davon und Patrizia ging nochmals eine Runde gaffen. Dann hatten wir aber beide definitiv eine heisse Dusche und eine kurze Siesta nötig.
Zum Apéro schlenderten wir durch den Markt und liessen uns von den neuen Gerüchen und Geschmäckern inspirieren. Für das Nachtessen trafen wir uns mit Tanja, die wir im Bus kennen gelernt hatten, auf dem Balkon des Restaurant Plaza mit Blick auf ebendiese. Château Briand, leckere Fischfilets und Wein aus dem Süden des Landes. Dabei hatte uns alle Welt prophezeit, wie trostlos die bolivianische Küche sei. Gut, an die Menuzusammenstellung muss man sich noch gewöhnen, denn wir mussten sage und schreibe drei Kohlehydratbeilagen auswählen, da liess der Kellner nicht locker. So gab’s halt Kartoffelstock, Spaghetti und Mais zu unseren Leckerbissen. Was für Hardcore-Radler eigentlich und nicht für Städtereisende. Ansonsten beschränkten sich die Beilagen meistens auf Reis und Pommes-frites (beides zusammen natürlich) – auch nicht ohne.
Am nächsten Morgen kamen wir dafür nicht mal zu unserem Frühstück, denn das Getöse aus den Gassen lockte uns nach draussen. Heute war die grosse Parade angesagt und die Zuschauer waren schon ganz nervös. Als der frischgebackene Präsident vorbeistolzierte und in unsere Linse lächelte, zupfte uns die Nachbarin ganz aufgeregt am Ärmel. Die Sicherheitsleute schwirrten wie Wespen um den Staatschef und die anderen korrupten – äh – hohen Tiere. Danach folgte natürlich einiges an reich dekorierten Uniformen. Unter wie vielen verschiedenen Regierungen die Offiziere wohl bereits gedient hatten? Staatsoberhäupter halten sich hierzulande in letzter Zeit selten lange im Sattel, doch so hoch, wie in Argentinien ist die Fluktuationsrate in Bolivien noch nicht. Dort reichten sich beim Jahreswechsel ins Jahr Zweitausendundzwei binnen zweier Wochen ganze fünf Regierungschefs die Klinke zur Casa rosada, dem Präsidentenpalast. Eine ganze Runde spannender hier in Südamerika, als in der kleinen Schweiz, die Politik, respektive die Präsidentenwahlen. Ein Mix aus Strassenblockaden, Streiks, Einschüchterungen, Wahlbetrug und Lethargie.
Wir hatten uns auf eine reine Militärparade eingestellt und waren ziemlich überrascht, was hier für Gruppen mitliefen. Quartiervereine, Pfadis, Freiheitsgruppen, Hausfrauenvereine, Behindertenverbände und, und, und. Es war ein sehr farbiges Spektakel. Statt gegen den jährlichen Aufmarsch der Rechtsradikalen auf dem Rütli zu lamentieren, sollten sich dort eben auch mal andere Gruppierungen auf der Wiese breit machen. Wäre doch schön, wenn das hirnlose Getue von ein paar Glatzköpfen im allgemeinen Trubel unterginge. Schade bloss, dass dann die Zeitungen ihre Sommerlöcher nicht mehr mit Polemik füllen könnten. Aber was wollen wir hier über den ersten August schreiben, es war bereits der sechste und Nationalfeiertag in einem anderen Land mit Bergen, Wiesen und Seen. Polizei- und Militärkapellen sorgten für den Rhythmus für die marschierenden Soldatenkolonnen und wenn sie mal nicht spielten, wurden sie gnadenlos ausgepfiffen. Wir waren überrascht, wie locker es hier zu- und herging. Den Abschluss machten endlose Reihen von fahnen- und gewehrtragenden Jünglingen, was dann doch langsam etwas zu viel wurde auf nüchternen Magen. Wir kämpften uns durch die hartnäckige Menschenbarriere uns suchten uns den Weg ins Freie.
Nach einem kleinen Snack und einer kurzen Siesta zogen wir bereits wieder durch die Gassen. Sucre, die weisse Stadt, wurde ihrem Namen gerecht. Weiss getünchte Häuser, mit Erkern und kunstvoll geschnitzten Türen säumten die Gassen, natürlich für den Nationalfeiertag adrett in den Landesfarben geschmückt. Der Verkehr schien sich dem sauberen und geordneten Stadtbild anzupassen und so war es ein Genuss, durch die Strassen, kopfsteingepflasterten Gassen und steilen Quartiersträsschen zu schlendern. Die vielen schönen Kirchen und Museen sahen wir leider nur von aussen, da die Sakristane und Pförtner an diesem Wochenende wohl Besseres zu tun hatten, als Tore aufzuschliessen und Eintrittskarten zu verkaufen. So verbrachten wir den Tag draussen, im Park oder auf einer Terrasse mit Ausblick über die Stadt. Gegen Abend schlenderten wir abermals durch den Mercado Central, kauften dies und jenes, schwatzten mit den Marktfrauen und assen im Comedor Popular (Fresshalle) zu Nacht. Ein gehäufter Teller Reis und allem, was sich irgendwie frittieren liess. Also Kartoffeln, Eier, Würstchen et cetera. Zusammen mit einer einheimischen Cola schmeckte dies vorzüglich.
Sonntag ist Markttag in Tarabuco, einem Dorf, etwa sechzig Kilometer von Sucre entfernt. Frühmorgens fuhren wir mit einer Touristenkarawane dorthin und waren überwältigt vom geschäftigen Treiben in dem kleinen Marktflecken. Campesinos, Bauern aus der Umgebung pilgerten hier hin, um ihre Waren zu verkaufen oder zu tauschen und ihre Wochen- oder Monatseinkäufe zu tätigen. In farbige Trachten gekleidet, zu Fuss oder auf der Ladefläche eines Camions unterwegs. Am Dorfeingang warteten die Esel, um die Waren über die Hügel zurück in die kleinen Weiler und Gehöfte rundherum zu tragen.
Die Einheimischen liessen sich vom beachtlichen Touristenkontingent nicht gross stören, sie waren sich wohl mittlerweile daran gewohnt. Wir genossen es, in den Gassen, wo Waren aller Art angeboten wurden, und im Lebensmittelmarkt herumzustreifen, stehen zu bleiben, zu beobachten und ein wenig mit den Leuten zu plaudern. Natürlich nutzten wir die Gelegenheit, viele Fotos zu schiessen, denn für einmal konnten wir uns hinter dem Touristenstrom verbergen. Die Menschen schienen ungewohnterweise gar keine Mühe damit zu haben, als Fotosujet herzuhalten. Klar, wenn es mal zu viel des Guten wurde, hätten sie den Touristen wohl am liebsten eine Tomate nachgeschmissen. Andere dafür versuchten sich als Fotomotiv gegen Entgelt. Wir versuchten, beidem auszuweichen. Alles in allem war die Stimmung angenehm, die Einheimischen akzeptierten den sonntäglichen Rummel, profitierten ja schliesslich auch davon und liessen sich nicht von ihren Geschäften abhalten. So gesehen war es ziemlich authentisch und die Campesinos trugen ihre Tracht bestimmt nicht für die Touristen.
Langsam füllten sich die farbigen Bündel an den Rücken der Menschen (da sind nicht immer bloss kleine Kinder drin), das Treiben wurde ruhiger und wir machten uns auf den Heimweg. Als die hügelige Landschaft an uns vorbeizog, hatten wir nochmals die Gelegenheit, die gesammelten Eindrücke Revue passieren zu lassen, bis wir langsam in den Schlaf sanken. Es war zwar erst früher Nachmittag, aber all das bunte Treiben und die wilde Knipserei der letzten Tage hatten uns wohl geschafft.
Die nächsten zwei Tage wechselten wir uns in Sachen Bettlägrigkeit ab. Man hatte uns ja bereits in Argentinien gewarnt, dass wir in Bolivien mit praktisch gänzlicher Sicherheit irgendwelche Käfer auflesen würden. Pah – wir doch nicht. Ein Jahr praktisch unbeschadet afrikanischer Küche und Hygienestandards getrotzt, da wird uns wohl nicht so schnell was umhauen. Zumindest verdauungstechnisch. Denkste. Brö kämpfte bereits die vergangenen Tage mit einer schleichenden Energielosigkeit, Kurzatmigkeit und Kopfweh, die ihn schlussendlich einen Tag ins Bett legte. Tags darauf doppelte Patrizia mit allen Symptomen einer akuten Magendarmgeschichte nach. Vielleicht waren die Würstchen am Markt, die in der kalten Sauce schwammen doch nicht mehr ganz so keimfrei... Während sich die Patientin fröstelnd in ihrem Schweiss wälzte und sich besagte Mahlzeit nochmals durch den Kopf gehen liess, dinierte Brö auf der Terrasse des Plaza abermals Château Briand mit Kräuterbutter und Butternudeln. Unglaublich solidarisch.
Mit Bananen, Panadol und Cocatee wurde auch Patrizia wieder bis zur Transportfähigkeit aufgepäppelt. Da wir weiter wollten, uns aber im momentanen Zustand die satten Steigungen nicht zutrauten, fuhren wir bloss bis zur Busstation. Selbst dies trieb uns den Schweiss aus allen Poren. In Potosí angekommen, montierten wir das Tandem unter den interessierten Blicken einiger pubertierender Jungs, die vor allem das Verdrücken einer Banane unglaublich lustig fanden. Die Polizisten meinten, nach dem Weg ins Zentrum gefragt, es sei dann aber schon ziemlich steil dort hinauf. Easy, wir haben ja ne Mountainbike-Übersetzung. Wir mussten dann bald einmal absteigen und schieben. Uns ging ganz schön die Luft aus und selbst den Göppel zerrend mussten wir alle paar Meter eine Verschnaufpause einlegen. Oben angekommen kurvten wir durch die verwinkelten Gassen, belegten ein Hostal in der Nähe der Plaza und zottelten los.
Potosí, am Fusse des Cerro Rico, auf viertausendeinhundert Meter über Meer gelegen, war einst Nabel der Welt und zu Zeiten der spanischen Eroberer das wohl wichtigste Handelszentrum in Amerika. Die Silberadern des Berges waren so ergiebig, dass die Stadt anfangs siebzehntes Jahrhundert hinter London zur bevölkerungsreichsten der Erde wurde. Münzen aus der Silberstadt wurden zu Tonnen nach Europa verschifft. Vierhundert Jahre später wird noch immer geschürft – und zwar mit denselben Methoden wie damals. Zwar sind die Adern nicht mehr so fündig wie in der Vergangenheit, wirtschaftliche Not, mangelnde Alternativen und die Aussicht auf das grosse Glück treibt die Männer, Frauen und Kinder noch immer täglich in die Stollen.
Als vor Jahren die letzten kommerziellen und staatlichen Minen geschlossen wurden, taten sich die arbeitslosen Mineure zu Genossenschaften zusammen, kauften sich aus ihren Abfindungen eine Zeche und versuchen seither ihr Glück auf eigene Faust. So sind dem Wildwuchs praktisch keine Grenzen mehr gesetzt, niemand schert sich um Arbeitssicherheit oder die Gesundheit der Arbeiter. Ob das vorher allerdings anders war, bleibt dahingestellt. Der Staat zieht sich fein aus der Affäre und braucht sich nicht um Alternativen bemühen. Die Minen im Cerro Rico haben nicht bloss hunderttausende Tonnen Silber zutage gefördert, sondern auch eine unglaubliche Anzahl Opfer gefordert. Auf acht Millionen Menschen, darunter viele schwarzafrikanische Sklaven, die bloss ein paar Monate unter unmenschlichen Bedingungen überlebten, und natürlich Indígenas (der Begriff „Indio“ ist hierzulande politisch nicht so korrekt), wird die Zahl der Todesopfer des verfluchten, vergötterten Berges geschätzt. Man stelle sich vor: Ebenso viele Einwohner zählt Bolivien heute. Unfassbar.
Um uns selbst ein Bild von den Arbeitsbedingungen in den Stollen zu machen, schlossen wir uns einer Minentour an. Es war äusserst interessant. Als Erstes fuhren wir zum Minenmarkt, wo wir Geschenke für die Mineure kauften. Zigaretten (ausländische oder handgedrehte), Getränke, Cocablätter, Dynamitstangen und Zündschnüre. Sprengstoff kann sich hier jeder gewöhnlich Sterbende ohne Fragen oder Auflagen erwerben und am Schluss kriegten wir sogar noch eine Anleitung zum Bau einer Bombe (damit es auch schön richtig „Bumm“ macht, stecke man die Dynamitstange in ein Plastiksäckchen voll Natriumnitrat, ist billig und erhöht die Sprengkraft). Die USA und ihre terrorismusverblendeten Alliierten hätten ihre helle Freude daran. Aber die machen hier ja vor allem den Cocabauern das Leben schwer. Dazu später.
Quasi gegen den Verarbeitungsablauf besuchten wir als Erstes eine Schmelze (die ja eigentlich gar keine mehr ist), in der aus dem Erz Metall gewonnen wird. Berge von Gestein wurden von Hand umgeschaufelt, mit altertümlichen Maschinen zerkleinert, in einer an ein Alchemistenlabor erinnernden Giftküche mit Wasser und Chemie versetzt. SUVA-Inpektoren wären wohl glatt vom Schlag getroffen rücklings in eines der schäumenden Bäder gekippt, wie wir uns über Bretter, vorbei an giftig dampfenden Becken, rotierenden Rädern und langen Antriebsriemen hindurchschlängelten. Das Resultat der Anlage, feinster Silberstaub, konnten wir uns wie Glitter an der Fasnacht auf die Wange malen.
Mit dieser Kriegsbemalung, Helm, Lampe, Gummistiefel und Überkleider wagten wir den Vorstoss ins Innere des Berges. Vorher aber baten wir die Pachamama (Mutter Erde), mit praktisch hundertprozentigem Zuckerrohrschnaps, von dem wir ein paar Tropfen auf den Boden spritzten und ein Schlückchen tranken, uns wieder heil aus den dunklen, alten Stollen zu bringen. Nachdem drei gefüllte Karren, von Hand geschoben und gezerrt natürlich, aus dem Loch geschossen kamen, war der Weg frei und im Laufschritt rannten wir durch knöcheltiefes Wasser, über uralte, verbogene Geleise, in einen, zum kleinen Museum umfunktionierten, Seitenstollen. Dort konnten wir uns ein Bild über die facettenreiche Geschichte des Berges machen. Danach drangen wir weiter und tiefer in den Berg vor, die Gänge wurden enger und die Temperatur drückender. Unsere Staubmasken waren im Nu schwarz – die Mineure trugen keine. Häufig gebückt und ohne Schutz verrichteten sie ihre Arbeit, Schaufeln, Pickeln, Hämmern, Wagen schieben, Körbe hochziehen – Maschinen gibt es hier nicht. Während bei uns zuhause ja jeder Hobbyhandwerker eine Hilti hat, werden hier die Löcher für die Sprengladungen von Hand in den harten Fels gehauen. Mehrere Stunden Arbeit pro Loch. Wir besuchten eine Mine (das heisst, wir quetschten uns bäuchlings einzeln durch einen engen Gang), an der bloss ein Mann arbeitete, weil die Ader so schlecht ist. Einen Tag Arbeit für zehn Kilo Erz. In anderen Minen arbeiten, zehn, fünfzehn, bis fünfzig Leute. Allesamt mit einer dicken Backe voll Cocablätter, um das Hungergefühl zu dämpfen und nicht so schnell zu ermüden. Nach sieben Stunden Tour, der Hälfte davon in dem schwarzen Loch, waren wir froh, wieder an der frischen Luft zu sein und die elenden Arbeitsbedingungen hinter uns zu lassen.
Nachdem wir die vorangehende Nacht unter sechs (!) Wolldecken verbracht hatten, wechselten wir in ein luxuriöseres Hostal mit Heizung. Obwohl es eigentlich gar nicht so extrem kalt war hier oben. Aber es war schön, mal einen Raum zu betreten, indem nicht Aussentemperatur herrschte. Vielfach werden wir von Einheimischen gefragt, wie denn das Wetter in der Schweiz so sei. „Kalt natürlich, im Winter, mit Schnee und monatelangen deprimierenden Wolkendeckeln.“ „Dann mache uns die Kälte bestimmt nichts aus!“ „Natürlich nicht!“, bloss, dass man bei uns zuhause von der beheizten Wohnung im beheizten Bus oder Zug ins beheizte Büro fahren kann und nach den Einkäufen im beheizten Supermarkt in ein beheiztes Restaurant Essen gehen kann. Langsam gewöhnten wir uns an die kalten Räume, man trug halt einfach dieselben Kleider drinnen und draussen – Tag und Nacht.
Neben der wohligen Wärme bot unser neues Heim auch den Luxus eines Fernsehers mit DVD-Sammlung, dutzenden von Reiseführern in der Sofaecke und einer kleinen Küche. Und sogar Baño privado mit heisser Dusche! Wir zottelten noch ein bisschen durch die geschichtsträchtige Stadt, stockten auf dem Markt unsere Vorräte auf und wohnten einer interessanten Führung in der Casa de Moneda, der ehemaligen Münzstätte bei. Dort erfuhren wir unter anderem auch, wie schlau die Conquistadores, respektive die gottgesandten Missionare den Naturglauben, die Ikonen und Götter der indigenen Bevölkerung mit dem christlichen Glauben vermischten, um aus „Ungläubigen“ „Gläubige“ zu machen. Eine Vermischung von Marienkult und Pachamama war auf vielen Altarbildern zu sehen. Noch heute ist diese Mischung aus Naturreligion und katholischer Kirche präsent. Widersprüchlich braucht das ja nicht unbedingt zu sein.
Potosí – UyuniFünf Tage für zweihundert Kilometer
So, jetzt wollten wir aber definitiv wieder auf’s Rad. Zumindest Patrizia, Brö hätte natürlich gerne noch einen Tag im cineastischen Schlaraffenland angehängt. Bis wir alles ausdiskutiert und erledigt hatten, wurde es Mittag und als wir die Wasserflaschen hinten auf den Anhänger banden, entdeckten wir einen Riss. Ein Rohr war gebrochen, so ein Mist. Also hiess es nochmals kreuz und quer (will heissen rauf und runter) durch die Stadt kurven und einen Schweisser suchen. Dank den zahlreichen widersprüchlichen Hinweisen aus der Bevölkerung konnten wir die Schlosserstrasse langsam einkreisen und binnen zehn Minuten war der Anhänger geschient und zugebraten. Sah nicht gerade schön aus, wird aber wohl halten.
Etwa gleich widersprüchlich war die Wegbeschreibung zur Abzweigung nach Uyuni, unserem Endziel. Kein Wunder, machten wir heute, trotz Rückenwind bloss gut dreissig Kilometer. Überhaupt lässt sich der Tagesschnitt auf Boliviens unbefestigten Strassen getrost halbieren, wir brauchten nämlich für die bloss gut zweihundertzwanzig Kilometer lange Strecke fünf Tage. Aber die Bedingungen waren schliesslich alles andere als ideal. Der Wind drehte nämlich ab Tag zwei und blies uns von da an mehr oder weniger stark, aber konstant ins Gesicht. Pässe von bis zu viereinhalbtausend Metern galt es zu überqueren und von Schotter bis Sandpassagen hatte die Strasse so gut wie alles zu bieten. Bergauf reduzierte sich die Geschwindigkeit bis auf dreieinhalb Stundenkilometer und teilweise noch tiefer, wenn wir wegen der unmenschlichen Steigungen schieben mussten. Dank den Calaminas (Wellblech) waren keine Geschwindigkeiten von mehr als zehn, fünfzehn Stundenkilometer möglich und auch die Abfahrten liessen kein höheres Tempo zu. In den Kurven lag häufig eine zentimeterdicke feine Staubschicht über den Schottersteinen und teilweise war es ein richtig rallymässiges Um-die-Kurve-Schlittern. Auf den Sack fielen wir aber bloss ab und zu in den Sandbetten. Ein nicht sehr fliessender Übergang von Fahren nach Schieben sozusagen.
All dies hinderte uns keineswegs, diese Strecke zu geniessen. Wir wussten zum Vornherein, dass es kein Schleck werden würde und wir liessen uns auch genügend Zeit. Da wir immer im Zelt übernachteten, warteten wir mit Aufstehen jeweils, bis sich die Sonne zeigte, denn früher aus dem Schlafsack zu kriechen hätte wohl mit Frostbeulen geendet. Die Nächte waren bitterkalt und selbst im Schlafraum gefror über Nacht das Wasser in den Velobidons. Zum Glück hatten wir so kuschelig warme Schlafsäcke, aber die Thermounterwäsche zogen wir trotzdem für fünf Tage nicht aus. Je näher wir Uyuni kamen, desto tiefer sank das Thermometer. Unter dem azurblauen, wolkenlosen Himmel aber stiegen die Temperaturen nach Tagesanbruch schnell, sodass wir genüsslich draussen frühstücken konnten, während wir darauf warteten, dass die Eiskristalle an den Zeltwänden dahinschmolzen. Packen, aufladen, Göppel auf die Strasse schieben, Dornenkontrolle – wir kannten das Spiel ja. Wir genossen diese Routine und das Zelten in der freien Natur, in dieser grossartigen Landschaft, in dieser Einsamkeit. Mal in einem trockenen Flussbett errichteten wir unser Nachtlager, mal hinter Sandhügeln, mal mitten im goldgelben Puna-Gras. Das Zelt immer strategisch gegen die Morgensonne ausgerichtet. Wenn es ging, nutzten wir die letzten Stahlen des Tages, um unser Mahl draussen zu kochen. Oftmals aber zwang uns der eisige Wind ins Zelt. Cocatee brauen (wir lernten schnell dessen positive Eigenschaften in der Höhe für uns zu nutzen), Spaghettiwasser kochen, oder, was unser neues Lieblingsradelmenu wurde, Polenta mit Tomatenpüree und Reibkäse. Dieses hatte den Vorteil, dass es a.) weniger Sprit brauchte und schneller bereit war und b.) die Pfanne im Nu gereinigt (saubergeleckt) war. Bei besonderen Gelegenheiten (also jeden Abend) verwöhnten wir uns mit den letzten aus Argentinien importierten Alfajores zum Dessert und dann hiess es meist schon Lichterlöschen.
Wir kamen an vielleicht drei nennenswerten Siedlungen vorbei, wo wir uns mit Vorräten eindecken konnten. Dazwischen lag nichts als grossartige Landschaft. Tiefe Täler, enge Schluchten, kakteenbestandene Berghänge, leuchtende Felsen, selten ein Bach, bis es allmählich in den Altiplano mit seinen weiten Ebenen und sanft geschwungenen Hügeln überging. Am Strassenrand grasten die Lamas (wenn man dem so sagen kann, denn die paar dürren Stoppel auf dem sandigen Grund waren wohl alles andere als eine ausschweifende Diät). Kein Wunder müssen die von unseren Kameliden vernarrten Freunden importierten Alpakas auf Diät gesetzt werden, angesichts der saftigen Wiesen im Seetal (zu Luzern) und dem Ergänzungsfutter. Dieser übervolle Futternapf muss für die Tiere ja ein richtiger Schock gewesen sein, geradezu, wie wenn eine Biene in den vollen Honigtopf fällt. Oder Patrizia in eine Zeine voller Schoggifondue. Oder Brö in eine Badewanne voller Bier. Wie auch immer. Karg war es hier, und trocken.
Der Verkehr liess nach dem ersten Minenstädtchen sichtlich nach und wir wurden immer seltener in eine Staubwolke vorbeirauschender Fahrzeuge gehüllt. Die Fahrer waren durchaus nett und mehr als einmal hielt ein Lastwagen und bot uns an, uns ein Stück des Weges mitzunehmen. Es hatte gerade soviel Verkehr, dass es nicht zu einsam, aber auch nicht zu mühsam wurde. Sprich, ein paar Fahrzeuge pro Tag. Einmal wurden wir von einem Overlandertruck (Gruppenreisen im umgebauten Lastwagen) zum Mittagessen eingeladen, einmal erwartete uns ein roter Minibus oben auf dem Hügel zum Fototermin, einmal teilten wir unsere Bananen mit einem Bauern, der seine mit Kartoffelsäcken beladenen Esel ins Dorf trieb, einmal hielt ein italienischer Töfffahrer auf seiner schicken BMW für ein kurzes Schwätzchen und einmal kam uns sogar eine Vespa, natürlich ebenfalls von einem Italiener pilotiert, entgegen. Mit dem Tandem hier durchzufahren war also bei weitem nicht die ausgefallenste Art.
Es zeigte sich wiedereinmal, wie sehr das Empfinden einer Strasse vom benutzten Verkehrsmittel abhängt. Vittorio mit seinem Touringtöff meinte, als wir ihn am zweitletzten Tag nachmittags antrafen, es sei bloss noch ein kurzes Stück bergauf und dann alles bergab nach Uyuni. Marco, auf seiner Vespa, der uns etwas später entgegenrollte, meinte, es lägen noch unmenschliche Steigungen vor uns und etliche Hügel. Na dann, gut Nacht.
Die Steigung nach Pulacayo (jenem Bergbaudorf, das so hässlich an einem Hang klebte, dass es schon fast wieder fotogen war) war zwar wirklich jenseits jeder vernünftigen Strassenführung. Hätten wir jedoch gewusst, dass es hinter dem nächsten Hügel wirklich bloss noch bergab ging, hätten wir uns gesputet, um uns am selben Abend in Uyuni mit Vittorio eine Pizza und ein kühles Bier reinzuziehen. So aber legten wir noch eine letzte Nacht in luftiger Höhe ein, wobei es sich dann am letzten Tag kaum mehr lohnte, die Taschen zu packen. Nach ein paar Kilometern nämlich erblickten wir in der Ferne den weiss leuchtenden Salar und unser Ziel Uyuni, mitten in einer unendlich erscheinenden Ebene. Drei mal treten, rollen lassen und wir waren da.
Wir kannten das Städtchen ja von unserer Jeeptour her aber es beeindruckte uns auf’s Neue beim Einfahren, diese Mischung aus Geister- und Wildweststadt, die trostlos grauen, halbfertigen oder halbverfallenen Häuser, die unverhältnismässig breiten, sandigen Strassen. Im Zentrum hatte es, Tourismus sei Dank, eine klitzekleine Fussgängermeile und ein paar Hotels und Restaurants.
Uyuni schien nicht nur Ausgangspunkt für die Salar-Lagunen-Jeeptouren zu sein, sondern auch Dreh- und Angelpunkt für Südamerikaradler. Denn als wir eine Bleibe suchten, trafen wir auf Reto und Paul aus der Schweiz. Nicht genug damit, denn als sich die beiden aufgestellten Panamericanaradler nach einem ausgiebigen, interessanten Schwätzchen aus dem Staub gemacht hatten, trafen wir auf Yvonne und Andreas, ebenfalls aus dem Schweizerländle, die wir schon bei der Passüberquerung nach Santiago de Chile angetroffen hatten und Begoña und Iker, die Basken, die uns bei San Antonio de los Cobres entgegen radelten. Wir richteten uns allesamt im selben Hostal ein, verstauten auf verschiedene Arten unsere Räder diebstahlsicher und widmeten uns einer ausgiebigen Körperpflege.
Beim Kaffee auf der Plaza und dem anschliessenden Pizzaessen tauschten wir allerlei Radlergeschichten und Strassenbeschreibungen aus. Es war gemütlich, superlecker und endlich stand wiedereinmal ein eiskaltes Huari-Bier auf dem Tisch. Nach der Cocatee-Diät eine Wohltat für Leib und Seele. Eigentlich hätten wir danach gut schlummern sollen, auch angesichts der dicken Schicht aus Wolldecken und den bequemen Betten, aber bereits um vier konnten wir nicht mehr schlafen und widmeten uns den Büchern und dem Compi. Mit dem Frühstück warteten wir allerdings noch zu, bis sich die Sonne zeigte, denn viel wärmer als im Zelt war es in unserem Kämmerchen nun auch wieder nicht. Auf der Veranda, sozusagen an der Stehbar, gab es heisse Schoggi und frische Brötchen. Schon praktisch, so ein Thermos, wir können ihn uns schon gar nicht mehr wegdenken. Mit dem geplanten Waschgang unseres Equipments mussten wir uns gedulden, bis die Leitungen im Hof wieder aufgetaut waren, so gingen wir erst mal Vorräte aufstocken für die nächste Etappe. Praktischerweise fanden sich im eher dürftigen lokalen Angebot zahlreiche Importprodukte aus Argentinien und Chile, sodass wir uns wiederum einige Rationen unseres Lieblingsessen kaufen konnten.
Uyuni – Oruro – La PazSinnestäuschungen
Am nächsten Tag hiess es bereits wieder Abschied nehmen von unseren neuen Radelgspändli, denn alle Paare machten sich in verschiedene Himmelsrichtungen davon. Ein paar Augenblicke spielten wir zwar noch mit dem Gedanken, einen Tag anzuhängen, so gefiel uns die Gesellschaft, aber dann rissen wir uns doch noch am Riemen, packten unsere Sachen und fuhren gegen Mittag mit dem beladenen Tandem aus dem Patio. Wir brauchten bloss den Touren-Jeeps zu folgen und schon waren wir auf dem Weg nach Colchani, am Rande des Salzsees. Die prophezeiten Calaminas und der Gegenwind limitierten unsere Geschwindigkeit auf ein Dutzend Stundenkilometer, ein übermütiger Jeepfahrer fuhr uns fast über den Haufen – wir freuten uns trotzdem auf die Weite des Salars. Als wir dessen „Ufer“ erreichten, brauchten wir allerdings erst mal ein paar Kohlehydrate. Mais, Kartoffeln und ein paar Fetzen Lamafleisch.
Bald erreichten wir die Salzfläche und vor uns öffnete sich eine blendend weisse Ebene. Wir kurvten an den aufgeschaufelten Salzhaufen vorbei, peilten westliche Richtung an und bald war unser Ziel, das Hotel de Sal in Sicht. Wir nutzten die Gelegenheit und schossen in der Nachmittagssonne ein paar fesche Fotos und radelten dann gemütlich gegen unser Nachtlager. Vor dem Hotel drehten wir noch ein paar Runden mit den drei Mädchen der Geranten, die sich wohl gewohnt waren, von den Velofahrern herumchauffiert zu werden. Alles wollten sie geschenkt kriegen und unsere Maskottchen am Korb heissen seither Regalame („schenk mir“). Brö hatte es vor allem der kleinen Eugenia angetan, die kaum mehr von seiner Seite wich und vor dem Schlafengehen semiprofessionellen Zeichenunterricht kriegte.
An die Salzmauern des Hotels gelehnt genossen wir den Sonnenuntergang über dem weissen Horizont. Wir kamen uns vor wie beim Après Ski auf einer schneebedeckten Terrasse. Abends wurde uns Quinua, ein supergesundes Getreide mit Lamafleisch serviert. Es war richtig lecker. Wir konversierten noch eine Weile mit den anderen Gästen und verzogen uns dann in unsere Salzkammer. Strom und Wasser schienen im überrissenen Preis nicht inbegriffen. Was soll’s.
Schon lange hatten wir nicht mehr so gut geschlafen wie auf den Salzblöcken. Nach dem stärkenden Frühstück mit frittierten Fladenbroten machten wir uns auf den Weg. Wir tippten die Koordinaten in das GPS – fünfundsechzig Kilometer in westlicher Richtung. Die Insel inmitten des Salars war noch nicht auszumachen, also fuhren wir mitten auf die weisse Fläche, dem Horizont entgegen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, in dieser Einsamkeit, dieser unglaublichen Weite, ohne Anhaltspunkte dahinzugleiten. Immer wieder musste man seinen Verstand davon überzeugen, dass diese weisse Fläche, die unter den Rädern knirschte weder Schnee noch Eis war, sondern Salz. Es war nicht ganz so eben, wie es vom Jeep aus den Anschein machte und wir wurden teilweise recht durchgeschüttelt. Da der Wind aber ausnahmsweise mal abgestellt hatte, war es ein Genuss, einfach so dahinzuradeln. Ab und zu fuhren wir auf den Pisten der Jeepfahrer, die sich gegen Ende der Saison langsam gräulich abzeichneten und den Vorteil hatten, dass sie ein bisschen glatter waren.
Natürlich hielten wir unzählige Male an, um die Stille zu geniessen und Fotos zu knipsen. Der Blick verlor sich in der Ferne. Gegen Mittag sausten die ersten Jeeps vorbei und am Horizont die Insel Incahuasi auf. Bis wir sie erreichten, galt es allerdings noch einige Kilometer abzustrampeln. Wir durften uns im Refugio de los Cyclistas einnisten. Extra einen Raum für die Velofahrer (erst noch gratis) haben sie auf dieser Insel eingerichtet und anhand der drei vollen Gästebücher konnte man sich ein Bild davon machen, wie viele Radler bereits hier durchgekommen waren. Zurecht ist diese Insel mitten im Salar de Uyuni das Highlight einer Bolivienradtour. Vom Gipfel der Koralleninsel genossen wir den Sonnenuntergang. Die meterhohen Kakteen wurden in Rot getaucht, der Feuerball versank in der weissen Tiefe. So wunderschön surreal ist unsere Welt!
Der Sternenhimmel war fantastisch und aus unseren Schlafsäcken heraus konnten wir die Pracht, die sich bis zum Horizont zu erstrecken schien, geniessen. Gegen Morgen zeigte sich der Vollmond vor unserem Fenster und tauchte die Umgebung in gespenstisches Licht. Die Kakteen und Felsen zeichneten sich deutlich vor dem weissen Hintergrund ab. Wenn es Draussen nicht so bitterkalt gewesen wäre und im Schlafsack nicht so kuschelig warm, hätten wir bestimmt einen Spaziergang im Mondschein gemacht. So aber genossen wir die Aussicht durch das Panoramafenster.
Nach dem Frühstück packten wir unser Tandem und peilten nördliche Richtung an. Auf der jungfräulichen Salzfläche fuhren wir dem knapp fünfzig Kilometer entfernten Rand des Salars entgegen. Wir liessen uns jede Menge Zeit, wir genossen jeden Meter. Sogar Brö konnte beim Fahren die Augen schliessen, soweit das Auge reichte, war nichts als Einsamkeit. Wir stellten unser Velo ab, legten uns auf die weisse Fläche und genossen die Stille. Als wir den Rand des Salars erreichten, wurde es langsam feuchter. Die Pneus schaufelten die zähe Masse hoch und im Nu war unser Tandem mit einer dicken Salzschicht bedeckt. Das hätte nun wirklich nicht sein müssen. Über einen Damm erreichten wir das „Festland“ und spritzen unser geliebtes Velo mit unseren Trinkflaschen, zumindest an den neuralgischen Punkten, sauber.
Das Dörfchen Jirira schien ausgestorben und wir hatten uns schon fast mit dem Gedanken abgefunden, trotz beachtlichem Gegenwind weiterzufahren. Da winkte uns ein Herr entgegen und durch ein Blechtor fuhren wir in einen schönen Patio. Mit dem Ziehbrunnen förderten wir eimerweise Wasser aus der Tiefe, um damit unser Velo, den Anhänger und die Taschen peinlichst genau von dem aggressiven Salz zu befreien, bevor es zu einer betonharten Masse zusammenpappte. Der Besitzer schmiss sogar den hochexplosiven Durchlauferhitzer an, damit auch wir in den Genuss einer Dusche kamen. Bis zum Nachtessen in der Küche, unter den interessierten Blicken der ganzen Familie, vertreiben wir uns die Zeit mit Lesen und genossen ein letztes Mal die Aussicht auf den Salar de Uyuni.
Die ganze Nacht hindurch stürmte es beachtlich und auch am Morgen liess der Wind nicht nach. Frühstück gab es hier keines, also machten wir uns hinter unsere Müeslireserven. Wir warteten vergebens, dass sich der Wind etwas legen würde und sattelten etwas unmotiviert unser Tandem. Der Weg glich eher einem Bachbett als einer Strasse und halb schiebend, halb fahrend kämpften wir gegen den Wind an. Nach einigen Kilometern hügelauf und -ab besserte sich die Lage, zumindest, was den Weg betraf, etwas. Zwar mussten wir immer wieder durch Sandbetten schieben, aber mehrheitlich sassen wir im Sattel. Die Dörfer, die wir passierten, waren Geisterstädte aus Lehmhäusern. Ein Lastwagenfahrer gab uns den Tipp, die Abkürzung über die Salztonpfanne zu nehmen und nach ein paar Sumpfpassagen rollten wir auf einer samtenen Fläche dahin. Der Wind war manchmal etwas ungehalten, Böen und Windhosen fegten uns um die Ohren. Nach dreissig Kilometern erreichten wir einen grösseren Ort, der uns auf Anhieb sympathisch war. Wir zogen eine Runde um die Plaza und quartierten uns im besten Hostal am Platz ein. WC: unter Wasser; Dusche: keine; Bettwäsche: seit Monaten nicht gewechselt; Hühnerknochen: auf dem Zimmerboden. Dafür war die Señora umso netter. Sie kochte uns extra unser Wunschmenu und gab uns zum Abschied sogar noch getrocknetes Lamafleisch mit auf den Weg. Wir hatten natürlich an so was in Richtung Bündnerfleisch gedacht und verschenkten am nächsten Tag die Kartontranchen knochentrockenen Lamafleisches. Die Brote aus dem Lehmholzofen, den wir nach einigem Suchen in einem Hinterhof fanden, belegten wir lieber mit dem leckeren Ziegen-Frischkäse, den man hier überall kaufen kann. „Chäs ond Brot“, das wurde, ganz schweizerisch, zu unserer Hauptwegzehrung in Bolivien.
Die Leute in dem kleinen Örtchen waren überaus freundlich und wir plauderten hier und dort. Auf der Plaza standen wir den Kindern Red und Antwort, in der Kirche wechselten wir einige Worte mit der Kerzenwächterin, deren kleines Lamm um die Bänke tapste und den geweihten Boden benässte. Ein alter Herr holte zuhause seine Medikamente und bat uns um eine Übersetzung der englischen Packungsbeilage. Es war ein Ort, wo wohl nicht viele Touristen halt machen. In einem Monat kriegten sie elektrischen Strom, das gab sicher ein Riesenfest.
Die Strasse weiter Richtung Oruro, wurde uns als „mühsam“ beschrieben. Nach ein paar Kilometern wussten wir, wieso. Es war zwar relativ flach aber das Wellblech war so übel ausgeprägt, dass man sich auf einer Hochseepassage wähnte. Zudem war der lose Schotter von unzähligen grossen Gesteinsbrocken durchsetzt. Es war, gelinde gesagt, saumässig doof zum Fahren. Der Gegenwind machte die Sache auch nicht gerade angenehmer. Den ganzen Tag kämpften wir uns durch diesen mühsamen Camino. Wäre ein Lastwagen vorbeigekommen, wir hätten eins, zwei verladen. Wenn. Am Morgen des zweiten Tages entmutigte uns die Strasse auf’s Neue und als wir nach ein paar Kilometern an einem Dorfbrunnen unsere Bidons auffüllten, brauste unsere Rettung daher. Ein komplett überfüllter Bus, der aber für uns und unser Gefährt noch ein Plätzchen fand. Als wir am Boden sitzen mussten, fanden wir das im ersten Moment nicht so toll, als dann später die Fahrgäste auch noch unten ins Gepäckfach verfrachtet wurden, waren wir ziemlich froh, nicht mit ihnen tauschen zu müssen. Das haben wir nicht mal in Afrika erlebt, dass die Passagiere ins ohnehin schon überfüllte Gepäckabteil gesteckt werden. Nicht etwa bloss Junge, nein auch alte Frauen und Mannen mussten mit dritter Klasse Vorlieb nehmen – unglaublich!
Nachdem die staubige Piste in eine Asphaltstrasse übergegangen war, stiegen wir aus und machten uns wieder per Rad auf den Weg. War das ein Feeling! Der Strassenbelag war Samt unter unseren Pneus und trotz Gegenwind glitten wir wie auf Wolken dahin. Wir konnten kaum mehr bremsen und radelten im Abendlicht durch die schöne Altiplano-Landschaft, bis wir uns doch noch entschieden, unser Zelt aufzuschlagen. Eine Asphaltetappe später, kaum der Rede wert, waren wir in Oruro, einer chaotischen, aber freundlichen Millionenstadt im Süden Boliviens.
La Paz – Rurrenabaque – La PazGrossstadtleben, Eisklettern und Baden im Amazonas
Boliviens vermeintliche Hauptstadt La Paz liegt in einem Talkessel und es ist, als wie man die Klippen hinabstürzen würde, wenn man vom viertausendzweihundert Meter hohen Altiplano in die fünfhundert Meter tiefer gelegene Stadt hinunterfährt. Der Ausblick ist atemberaubend. Mit dem Velo hier herunterzuflitzen wäre bestimmt ein Erlebnis, wenn auch ein fragwürdiges. Waren die Strassen bis jetzt relativ bis sehr verkehrsarm, flitzen hier Lastwagen, Taxis und unzählige Micros (Minibusse) in wildem Durcheinander in die und aus der Stadt. Begnügten wir uns also mit dem Blick aus dem Fenster unseres Busses.
Ausgesprochen ruhig geht es jeweils auf den Busbahnhöfen in Bolivien zu. Vermutlich dank dem, dass man eine Busbahnhofsbenutzungsgebühr entrichten muss, wenn man im Terminal einsteigen will, drücken sich hierzulande keine unnötigen obskuren Gestalten herum und man hat alle Zeit der Welt um seinen Göppel zu verstauen oder startklar zu machen. Natürlich hält der Bus jeweils fünfzig Meter nach der Busstation, um auch die Leute einsteigen zu lassen, die sich die Gebühr sparen wollen. Wir aber waren froh, jeweils in aller Ruhe unsere Siebensachen zu packen. Mit beladenem Tandem also, fuhren wir in’s lebhafte La Paz und suchten uns ein Hostal im Zentrum. Angesichts der unglaublich steilen Strassen waren wir nicht sehr wählerisch und blieben bereits beim Ersten hängen. Dieses allerdings erfüllte all unsere Wünsche und lag erst noch sehr zentral. Nix wie rein in die gute Stube.
Die quirlige Grossstadt nahm uns bereits beim ersten Streifzug durch die kopfsteingepflasterten Gassen in Beschlag. Als riesiges Dorf könnte man La Paz beschreiben, als einziger grosser Marktflecken, ein Chaos von hupenden Rüpeln hinter den Steuern der Micros und Taxis, geschäftigen Leuten in Schale und Deux-Pièces, die im unteren, mondänen Stadtteil herumeilen, Touristen und Einheimischen, die sich auf den Plazas tummeln, Frauen in traditionellen Aymara-Trachten, mit langen Zöpfen und Pompons, bauschigen Röcken, zu kleinen Hüten und Schuhen, Wollstrümpfen und Decken über den Schultern, vermummten, fast unheimlichen Schuhputzern, kleinen Kindern mit sonnenverbrannten und bereits wettergegerbten Gesichtchen. Riesige Märkte durchziehen den alten Stadtteil, Markthallen, Strassenstände, ganze Strassenzüge voller Geschirr, Lampen, Lavabos oder Stoff. Rundherum kleben die Häuser der ärmeren Quartiere an den steilen Hängen des Talkessels. Die Strassen waren voll von Leben, das von frühmorgens bis spätabends pulsierte. Und wir mittendrin.
Wir setzten uns in der Tourimeile, im Hexenmarkt, in ein Café und beobachteten die Touristenströme, die hier in den teilweise unmöglichsten Tenues herumlatschten. Fotoapparatbehängte Reisegruppen, die lauthals durch die Gassen zogen, angeführt von einheimischen Reiseführern, die in aller Herren Sprachen Erklärungen zur Geschichte abgaben, sehnige Sportler in voller Bergsteigermontur, rote Hosen mit verstärkten Knie- und Popassagen, knackige oder weniger knackige Mädchen in allzu knappen Tops und Jeans, die erst unterhalb der Bikinizone begannen, rastagezöpfelte Möchtegerne-Hippies in zerschlissenen Wollpullovern, Röcken und Heilandsandalen, Deutsche in Tennissocken und Birkenstöcken, Schweizer in langweiligen teuren Hightechklamotten, Israelis im Gratis-T-Shirt des letzten Adventure-Ausfluges, Amis in Hawaiihemden und deren Frauen in ebenfalls nicht minder schrecklichen gerüschten Blusen in Pastellfarben. Ach – Gaffen und vor allem Lästern kann ja so schön sein!
Wir legten noch zwei Streun- und Arbeitstage ein, begleitet von Magenkrämpfen weiblicher- und Bauchknurren männlicherseits. Nulldiät für Patrizia also, während sich Brö mit Käse und Brot den Ranzen vollhaute. Irgendwoher kannten wir das bereits.
Die Strasse, runter in die Yungas, die berühmt-berüchtigte Strasse des Todes macht man als Velofahrer normalerweise mit dem Mountainbike. Eine siebzig Kilometer lange Abfahrt, von viersieben auf zwölfhundert Meter. Cool wäre das ja schon und mittlerweile ein grosses Geschäft für die lokalen Tourenveranstalter. Da wir noch ein bisschen weiter wollten, bestiegen wir den Bus nach Rurrenabaque, im bolivianischen Amazonas. Eine neue Strasse steht seit etwa zehn Jahren immer kurz vor der definitiven Eröffnung, also wird nicht mehr viel in die bestehende Strasse investiert und jährlich stürzen hier hunderte von Menschen zu Tode. Überlebenschance: null, wenn ein Bus oder Lastwagen über die Kante rutscht. Wir hatten Glück und kamen unversehrt unten an. Für einmal war nicht die überhöhte Geschwindigkeit, der halsbrecherische Fahrstil des Chauffeurs oder die schlechte Wartung der Fahrzeuge Sorgenthema Nummer eins, sondern die Ausweichmanöver. Immer wieder mussten wir über lange Strecken zurücksetzen, bis die Breite der Strasse ein Passieren zuliess. Das ist natürlich relativ zu verstehen, denn es kam uns manchmal nicht bloss vor, dass eines der beiden Zwillingsräder bereits über dem Abgrund in der Luft baumelte. Von der Strasse sah man längst nichts mehr, wenn man den Kopf aus dem Fenster streckte, bloss noch gähnende Leere und wenn auch die Einheimischen langsam „Halt!“ riefen, wusste man, dass es knapp würde. Wir freuten uns jetzt schon auf die Rückfahrt, denn da durften wir immerhin auf der Bergseite kreuzen.
Aus den Drogenkontrollen in Bolivien wurden wir nicht ganz schlau. Zweimal wurden wir auf unserer Fahrt in den Dschungel angehalten und mussten den Bus verlassen, während das Fahrzeug und unser Gepäck durchsucht wurde. Das war ja allerhand, dass man bei der Durchsuchung des Gepäcks nicht dabei sein konnte. Was wir aber definitiv nicht verstanden war, wieso wir bloss auf dem Weg ins Coca-Anbaugebiet und nicht auf dem Weg zurück, wo wohl eher Drogen geschmuggelt werden, gefilzt wurden. Da werde einer schlau. Vielleicht war es ja auch bloss wieder eine von den USA mit vielen Dollars gesponserte Alibiübung. Denn dass die Behörden dem lukrativen Coca-Anbau wirklich den Riegel schieben wollen, können oder müssen, ist fraglich. Cocablätter werden in den Anden seit Jahrtausenden kultiviert und gekaut und gehören zur Kultur wie die Lamas. Und bloss weil die Amis ihre hausgemachten Probleme einmal mehr im Ausland zu lösen versuchen, brauchen die Coca produzierenden Länder nun wirklich nicht auf den Konsum der Cocablätter zu verzichten. Auch wir tranken schliesslich Cocatee kübelweise. Klar, aus Coca kann man nicht bloss Tee fabrizieren. Kokain natürlich auch. Aber es ist wohl eine Binsenwahrheit, dass der Absatz die Höhe der Produktion bestimmt und nicht umgekehrt. Und den legalen vom illegalen Anbau von Cocablättern zu unterscheiden ist wohl sowieso unrealistisch. Coca-Anbau gänzlich zu verbieten oder zu unterbinden ist eine Utopie und eine bescheuerte dazu.
Nach einer zwanzigstündigen Rüttelpartie fanden wir uns in einer anderen Welt. Die Landschaft und auch das kleine Städtchen Rurrenabaque erinnerte uns sehr stark an Asien. Alles war Grün, es wucherten Pflanzen in allen Formen und tropische Früchte dominierten das Angebot. Selbst die Bewohner schienen (wohl von uns imaginierte) Züge eines anderen Kontinents aufzuweisen. Töffs sausten durch die erdenen Gassen, die Restaurants hatten grosse gedeckte Terrassen und es fehlten bloss noch die Strohhüte. Der Himmel war bedeckt und es sah nach Regen aus. Ganz so wie prophezeit („ihr werdet euch die Kleider nur so vom Leibe reissen da unten“) war es nun doch nicht und für unser frühmorgendliches Nickerchen mussten wir uns eine Wolldecke ausleihen. Statt Fensterscheiben hatte es bloss Moskitonetze. Das Wetter besserte sich aber bald und wir stiegen seit Langem wiedereinmal in unseren Sommerlook. Sogar die Sandalen wurden aus ihrem Dornröschenschlaf erlöst.
Die Auswahl an Touranbietern war enorm. Und vor zwei Tagen wurden die Preise vereinheitlicht, sodass nun die Qualitätsunterschiede sich nicht mehr in Preisunterschieden niederschlugen. Es fiel uns also nicht ganz einfach, eine Tour zu buchen und schlussendlich mussten wir uns auf’s Bauchgefühl verlassen, denn alle boten so ziemlich dasselbe an, zum selben Preis und natürlich waren alle etwas spezieller als die anderen. Was soll’s. Wir zottelten noch ein bisschen durch’s Dorf und setzten uns zusammen mit zwei anderen netten Schweizern in ein Restaurant am Fluss. Drei Viertel der Speisekarte war gerade ausverkauft, der Fisch aber schmeckte vorzüglich.
Frühmorgens starteten wir zu einer dreitägigen Pampa-Tour. Natürlich wurde beim Verladen auf den Jeep gehetzt und natürlich mussten wir danach noch ein Ersatzrad besorgen, warten und tanken. Wir teilten uns den Platz mit Mirjam und Jörg aus der Schweiz, Lis et Romain de la France und zwei Girls from good old England, respektive Australien. Die Strecke war sehr holperig und es dauerte bloss dreissig Minuten, bis wir Gelegenheit bekamen, uns näher kennen zu lernen. Ein Hinterrad verabschiedete sich nämlich definitiv, denn die Radmuttern hatten sich nicht bloss gelöst, sondern es waren gleich die ganzen Schrauben aus der Nabe gerissen. Der Chauffeur begann die Achse zu zerlegen und wir liefen zum nächsten Ort. Dort jammerte Brö der Señora vom Restaurant die Ohren voll, bis sie erbarmen hatte mit dem armen Kerl, der noch nichts gefrühstückt hatte, und ihm einen Kaffee braute. Nach einer guten Stunde traf ein Ersatzwagen ein und weiter ging die Reise. Nach dem Almuerzo (Mittagessen) bestiegen wir ein Kanu und schipperten den Yacuma-Fluss aufwärts. Das Gepäck war verstaut, wir hatten unsere Plätze eingenommen und Luis, unser Führer im Rambo-Look, warf den Aussenborder an.
Schon nach wenigen Metern sahen wir die ersten Alligatoren. Wir waren natürlich entzückt und begannen bereits wie wild zu knipsen. Mit der Zeit stellten wir fest, dass es hier von diesen Reptilien nur so wimmelte. Von kleinen Babyalligatoren bis zu ansehnlich grossen und furchteinflössenden Exemplaren. Manchmal sah man bloss zwei Augen über der Wasseroberfläche, lautlos glitten sie dahin oder versteckten sich unter Ästen oder Baumstämmen am Flussufer. Vielfach aalten sie sich aber ganz faul und genüsslich in der Sonne, lagen bewegungslos da und tanken die Wärme des Tages. Nachmittags standen ihre Mäuler offen und sie präsentierten ihr eindrückliches Gebiss. Neben den Alligatoren lebten auch noch Kaimane im Gewässer, grösser, dunkler und gemäss Aussagen unseres Führers aggressiver. Wenn man die Capybaras (Wasserschweine) so ansieht, würde man meinen, sie seinen das ideale Fressen für die grossen Reptilien mit den noch grösseren Mäulern. Wir haben also nicht schlecht gestaunt, als diese Riesenmeerschweinchen (können immerhin bis fünfundsechzig Kilogramm schwer werden, ein Leckerbissen sondergleichen also), als eben einer dieser Nager einem ausgewachsenen Alligator in den Schwanz biss und sich das Reptil tatsächlich aus dem Revier des Meerschweinchens vertreiben liess. Diskussionslos.
Andere Leckerbissen, für Suppen, tummelten sich ebenfalls zuhauf im trüben Nass. Wasserschildkröten streckten ihre knorrigen Köpfchen aus dem Wasser oder sonnten sich in Reih und Glied auf mitgeschwemmten Baumstämmen. In den Bäumen sassen dutzende verschiedene Vogelarten, unser Führer beschränkte sich jedoch darauf, uns die Alligatoren zu zeigen – als ob wir die nicht selbst gefunden hätten. Auch wenn wir etwas mehr Erläuterungen zu Fauna und Flora erwartet hätten, war es doch sehr schön und vor allem gemütlich im Kanu durch den immer enger werdenden Fluss zu fahren. Als es dunkel wurde, zündeten wir unsere Stirnlampen an und waren nicht schlecht erstaunt, wie viele rot leuchtende Krokodilsaugen uns entgegenstarrten. Kein guter Ort für ein Bad im Mondschein.
Was Luis an Qualitäten abging, machten die Köchinnen wett. Wir wurden fürstlich verpflegt, ehe wir uns nach einer kurzen und leider etwas fruchtlosen Insektenpirsch unter die Moskitonetze legten. Am nächsten Morgen stand Anaconda-Suchen auf dem Programm. Ein reichlich doofes Spiel. Vor allem, wenn man Löcher in den Gummistiefeln hat, einem das Wasser über den Stiefelschaft reicht und man nach dem Ausleeren derselben Schlamm und Schnecken an den Socken hat. Drei Stunden durch den Sumpf waten und dann doch keine Riesenschlange zu Gesicht zu bekommen, da wäre man besser in der Hängematte geblieben und hätte den Geräuschen des Waldes gelauscht, den Insekten und den brüllenden Affen die in ganzen Horden durch die Baumwipfel zogen. Wir hatten’s ja geahnt, aber der Gruppendruck war stärker. Immerhin konnten wir uns erneut auf ein feines Mahl freuen und der Nachmittag war deutlich gemütlicher. Wir tuckerten ein bisschen flussabwärts und wer Lust hatte, konnte zusammen mit den rosa Flussdelfinen, die allerdings weit weniger verspielt zu sein scheinen, als ihre Meerbewohnenden Verwandten, kleinen, gefrässigen Piranhas und den Alligatoren im braunen Wasser des Flusses eine Runde schwimmen gehen. Da staunte Patrizia nicht schlecht, dass Brö sich in diesen Tümpel stürzte, wo ihn sonst höchstens kristallklares Wasser zum Bade einlädt. Aber, wer weiss, wann sich wieder die Gelegenheit bietet, im Amazonas (auch wenn es hier bloss einer der zigtausend Zuflüsse war) schwimmen zu gehen.
Abends genossen wir den Sonnenuntergang in einer Bar, tranken ein kühles Bier und wimmelten die lästigen Moskitos ab, bevor wir wieder zum Camp zurückfuhren. Am letzten Tag mussten wir unser Mittagessen selbst fischen. Alle hatten am Schluss einen Piranha an der Angel, bloss der Brö hatte Mitleid mit den kleinen Fischen mit dem grossen Appetit, die so geschickt und blitzschnell die Fleischstücke um die Angel herum abknabberten. Grosszügigerweise teilten die Gespanen den Fang, sodass jeder zu einer homöopathischen Menge Piranha kam. Viel Fleisch war an den kleinen Dingern wirklich nicht. Da wäre so ein Capybara am Spiess schon was anderes...
Wir schossen flussabwärts (Luis hatte wohl heimweh) und luden unser Gepäck auf den Jeep. Schon wieder derselbe Chauffeur und dasselbe Fahrzeug wie auf der Hinfahrt. Wir liessen ein paar Sprüche liegen, stiegen aber trotzdem ein und siehe da, nach fünf Minuten begann der Motor zu stottern und der Wagen stand. Ein paar Prügel unter die Motorhaube und der Jeep zuckelte wieder los. Etwas später verabschiedete sich bei rasender Fahrt ein Teil des Gepäcks vom Dachträger und musste wieder eingesammelt werden. Richtig garstig wurde es aber erst ein paar Minuten vor dem Ziel, ein lauter Knall und wir waren gesprenkelt mit feinen Glassplittern. Ein Stein hatte die Frontscheibe durchschlagen und diese schien nicht ganz europäischen Sicherheitsnormen zu genügen. Das Innere des Autos war voller Scherben, die zwei Girls auf dem Vordersitz hatten einige Schnittwunden und uns allen klebten am ganzen Körper kleine und kleinste Splitter. Zum Glück trugen alle Sonnenbrillen. Typischerweise kümmerte sich weder Guide noch Fahrer um die Passagiere und glücklicherweise war nichts Ernsteres passiert. Wenn ihr mal nach Rurrenabaque kommt, steigt nicht in den blauen Toyota ein!
Gottlob stand der Buschauffeur auf der Rückfahrt nach La Paz nicht so auf Musik, sodass uns die pausenlose Berieselung mit bolivianischer Klimperdudelimusik, schrecklich monoton und einfallslos, mit überaus schnulzigen Texten (während zwanzig Stunden lief dieselbe Kassette!) erspart blieb. Zwar goutierten das die einheimischen Passagiere nicht in dem Umfang wie wir das taten und verlangten lautstark nach musikalischer Unterhaltung. Der Chauffeur blieb hart und hätte ein saftiges Trinkgeld verdient. Wir hielten zweimal, um uns in den Restaurants zu verköstigen. Reis mit gebratenem Poulet, dazu ein Salmonellensalätchen. Von der Todesstrasse kriegten wir dieses Mal gar nichts mit und ehe wir’s uns versahen waren wir wieder auf dem Altiplano, gut viertausend Meter höher als noch einen Tag zuvor. Am Stadtrand von La Paz stiegen wir aus dem Bus und fuhren im Taxi durch die noch verschlafene Stadt zu unserem Hostal. Das Tandem war noch da und auch all unser Gepäck.
Auf der Rückfahrt nach La Paz war Brö die Idee gekommen, den Huayna Potosí, einen Sechstausender in der Nähe von La Paz zu besteigen und sich so quasi ein Geburtstagsgeschenk rauszuschnorren. Also verwendeten wir die nächsten zwei Tage, um uns bei den Agencias schlau zu machen und vor allem Kleider zu probieren. Für Brö war es ja kein grosses Problem, einigermassen sitzende Kleider zu besorgen, aber bei Patrizia sah das etwas anders aus. An einem Ort liessen sich zwar passende Schuhe finden, an einem anderen eine Jacke, die nicht bis über die Knie reichte. Kein Problem hier, die Ware wurde hin und her geschleust, sodass wir nach diversen Besuchen unser Bündel für die Gebirgstour beisammen hatten. Jacken, Hosen, Schalenschuhe, warme Lamawollsocken, und so weiter. Jetzt hätte bloss noch das Wetter etwas bessern sollen, denn es sah nicht gerade optimal aus. Natürlich versicherte uns die Dame von der Agencia, dass es kein Problem sei und auch unser Führer meinte, „No hay problemas!“. Gut, das Wetter konnte ja wechseln. In beide Richtungen versteht sich.
Zusammen mit Philippa, einer Engländerin, unserem Führer Gervasio und seinem Sohn Edgar machten wir uns im bequemen Jeep auf in die Berge. In El Alto machten wir einen kurzen Stopp, um Vorräte zu kaufen, dann ging es über Schotterstrassen dem Huayna Potosí entgegen. Von Weitem sahen wir das eindrückliche Bergmassiv, teilweise von Wolken verhüllt. Bei der Casa Blanca, auf viertausendsiebenhundert Meter über Meer endete die Strasse und wir kriegten erst mal einen Lunch. Danach stürzten wir uns in unsere Bergsteigermontur. Wir wanderten eine gute Stunde zum Gletscher hoch und montieren die Steigeisen. Patrizia war ja noch nie auf einer Gletschertour und so hatten wir die Gelegenheit, etwas zu „üben“. Wir kletterten ein wenig auf dem blanken Eis herum und Gervasio verankerte ein Seil, damit wir gesichert an einer senkrechten Wand hochklettern konnten. Pickelhieb um Pickehieb erklommen wir die eisige Wand. Auf dem Weg zum Gipfel waren die Flanken zwar maximal fünfzig Grad, also keine grosse Kletterei, aber es war recht cool ein bisschen Eiszuklettern, wenn wir schon Zeit hatten. Wir hatten uns schliesslich extra für eine dreitägige Tour entschieden, um ein bisschen Zeit zum Akklimatisieren, Rumklettern und Abseilen zu haben. Im Nachhinein war das allerdings nicht eine so gute Entscheidung, nicht nur des Wetters wegen. Unsere Tage bestanden nämlich mehrheitlich aus Rumsitzen und Essen.
Wir wanderten wieder zurück zur Casa Blanca. Auf den Tee folgte bald das Nachtessen und für die Nacht konnten wir’s uns am Boden in der beheizten Hütte bequem machen. Am nächsten Morgen staunten wir nicht schlecht: Wo gestern noch saftige grüne Wiese war, lag jetzt eine zentimeterdicke Schneeschicht. In den frühen Morgenstunden zeigte sich kurz die Sonne, aber bald schon zogen Wolken auf. Wir hatten jede Menge Zeit zum Frühstücken und liefen erst um halb elf los. Je höher wir kamen, desto mehr verdüsterte sich das Wetter. Im Schneegestöber marschierten wir den Berg hoch, über Geröll und Felsbrocken. Das Hochlager lag auf fünftausendzweihundert Meter und wir waren froh, konnten wir uns in ein leerstehendes Plastikzelt verkriechen. Der Wind pfiff uns um die Ohren und es schneite heftiger. Den langen Nachmittag verbrachten wir also im feuchten, etwas überstellten und vom Sturm durchgerüttelten Zelt. Die Stunden zogen sich in die Länge, obwohl wir mit Philippa immer was zu schwatzen hatten. Einmal, für zehn Minuten zeigte sich die Sonne und der Blick auf den Gletscher, den wir in der kommenden Nacht hochsteigen würden, wurde frei. Es sah herrlich aus und es wurmte uns sehr, dass wir bis jetzt noch nichts von dieser grandiosen Landschaft gesehen hatten und draussen sitzen konnten. Wir waren ja nicht bloss wegen dem Gipfel gekommen.
Auf’s Zmittag (Hörnli und G’hackets!) folgte bald der Tee mit Guezli und früh schon wieder das Nachtessen. Die Kalorienbilanz war bestimmt positiv. Nach einem letzten Cocatee verkrochen wir uns in die Schlafsäcke und versuchten, etwas zu schlafen. Das gelang uns mehr schlecht als recht und wir waren froh, als es endlich ein Uhr war und wir aufstehen durften. Noch immer schneite es und der Wind pfiff um unser Lager. In Patrizias Darmtrakt wurden wiedermal die Käfer aktiv. Die Bauchkrämpfe liessen auch nach mehreren Toilettengängen an der frischen Morgenluft nicht nach. Das war jetzt wirklich kein guter Zeitpunkt für eine Diarrhoe. Kurz nach Verlassen des Hochlagers schnallten wir die Steigeisen an die Schuhe und gingen ans Seil. Im Licht der Stirnlampen gingen wir langsam den Gletscher hoch. Wind und Schnee hatten den Weg, der eine Seilschaft gebahnt hatte, die etwas vor uns gestartet war, bereits wieder verweht. Es waren einige offene, teilweise recht tiefe Spalten zu überspringen und wir hofften, dass unser Führer auch die Spalten kannte, die nun vom Schnee zugedeckt waren, denn wie eine allfällige Spaltenrettung verlaufen wäre, möchten wir uns lieber nicht vorstellen.
Patrizia rief zum Stopp. Es musste was raus, Gletscher, Seil und Klettergurt hin oder her. Der Führer band sie los, was dann dem Brö doch etwas schräg reinkam, so mitten auf einem zerfurchten Gletscher. Während Patrizia sich ihrem Geschäft widmete, kramte Brö für die Patientin eine Medikamentenkur zusammen: Immodium und Panadol. Es rumpelte nochmals kurz, doch bald tat der Cocktail seine Wirkung und das Laufen wurde auch für die Kleinste wieder angenehmer. Wir stapften weiter und bei einem Tee- und Schoggistopp wurden wir von der Realität des Berges eingeholt. Unweit von uns donnerte eine Lawine zu Tal. Unser Führer meinte auf unsere Frage, ob der Weg an einem bekannten Lawinenzug vorbeiführe, ja, etwas weiter oben sei es „un poco peligroso“, ein wenig gefährlich, denn der Weg führe tatsächlich dort vorbei, wo eben die Lawine runtergedonnert sei. Wir würden einfach ein bisschen schneller gehen, um das Risiko zu minimieren. Suuuper! – wir waren unserer Sache nicht mehr so sicher und verloren allmählich etwas das Vertrauen in unseren Gervasio. Etwas weiter oben tauchten aus dem Nebel und Schneegestöber die Stirnlampen einer anderen Seilschaft auf, die auf dem Weg nach unten war. Im Gegensatz zu uns waren sie mit einem internationalen Bergführer unterwegs und hatten wegen der zu grossen Lawinengefahr Kehrt gemacht. Dies war für uns nun definitiv ebenfalls der Zeitpunkt, um umzudrehen. Schade natürlich, denn bis zum Gipfel hätten bloss noch zwei, dreihundert Höhenmeter gefehlt. Aber mit den Bergen ist nicht zu spassen, da waren zumindest wir drei Klienten uns einig.
Es wurde langsam heller und durch die Wolkenfetzen konnte man ab und zu einen Blick auf das gewaltige Bergpanorama werfen. Dass wir aber auch so Pech mit dem Wetter haben mussten – hei nomol! Wir stapften den gleichen Weg zurück und, obwohl es noch früh am Morgen war, sobald die Sonne auf den Gletscher strahlte, wurde der frisch gefallene Schnee zu Zement, der zentimeterdick unter den Steigeisen an unseren Schuhen klebte. Man kam gar nicht mehr nach mit abklopfen und wir wanderten mit feinsten ABBA-Plateauschuhen nach unten. Doch allzu lange zeigte sich die Sonne nicht, denn nach einer kurzen Pause im Hochlager begann es wieder zu schneien und der Abstieg wurde rutschig. Beim Basislager warteten wir eine Stunde im Schneetreiben auf unseren Abholservice und schauten zu, wie sich weitere Gruppen voller Tatendrang nach oben machten. Klar, dass eine Besteigung in diesen Verhältnissen keinen Sinn machte und ebenso klar, dass dies die Agencias und Führer nicht kümmerte. Die würden dir eine Bergtour auch noch verkaufen und sagen „no hay problemas“, wenn der Berg im Meer versunken oder in die Luft geflogen wäre.
In La Paz war das Wetter auch nicht viel angenehmer und die nächsten paar Tage gingen wir locker an. Ein bisschen Berichte vorbereiten, ein bisschen in der Gegend rumschlendern und Souvenirs angucken (und kaufen), auf die Plazas sitzen und dem Treiben zuschauen, natürlich nicht ohne einen obligaten Becher voller Schlabber-Gelée mit Sahnehäubchen oder einen Jugo de Naranja, frischgepressten Orangenjus, der hier an jeder Strassenecke angepriesen wird. Zudem reifelten wir noch durch die Gegend, um Stoff für ein paar neue Hosen und Gilets zu suchen und überwachten die Fortschritte des Schneiders, der nebenher auch noch einige Stücke für uns ausbesserte und einnahm. Mittlerweile war uns alles etwas zu weit. Wir sollten wohl echt mal die ganze Garderobe erneuern.
Voller Überzeugung kriegte Brö von Patrizia eine Geburtstagskarte zum dreiunddreissigsten Geburtstag. Bis wir die ersten Grüsse per Email kriegten, waren wir nämlich beide davon ausgegangen, dass dieses Jahr eine Schnapszahl gefeiert würde, als dann aber alle zum Vierunddreissigsten gratulierten, rechneten wir nach... Eigentlich ein gutes Zeichen, wenn man auf so einer langen Reise sich nicht bloss nicht mehr um Stunden oder Tage schert, sondern sogar die Jahre vergisst. Jäno, war halt der Brö eben ein Jahr älter als gedacht. Wir genehmigten uns ein ausgiebiges Frühstück auswärts und in diesem Stil ging es weiter. Kaffee und Kuchen in der deutschen Konditorei und selbst einen Laden mit erstklassigem Gruyère, Laugenbrot, Vollkorn-Partybrot, Nussecken und Vogelnestli fanden wir just an Brös Geburi. Zum Nachtechtessen hatten wir uns mit Esther und Dänu, zwei flotten Reiseradlern aus Bern verabredet. Es gesellten sich noch drei andere Schweizer, die hier irgendwelchen fragwürdigen DEZA-Projekten nachgehen. Es wurde ein richtig schöner Abend in guter Gesellschaft. Ein bisschen Apérölen und dann in einem deutschen Restaurant zu Nacht essen. Brezen, süsser Senf, Kässpätzle und Konsorte und sich natürlich durch die unglaubliche Vielfalt an Importbieren probieren. Ein Geburtstag also, voll auf der kulinarischen Schiene.
Unser Paket, prallgefüllt mit verschiedensten Sachen wurde auf’s Genaueste auseinander genommen. Die Zollbeamtin packte auch noch das kleinste Tütchen aus, zernoschte die Wollsachen, steckte eine lange Nadel in die Filzhüte und schnüffelte an allem auf der Suche nach Drogen. Dann durften wir den ganzen Krempel wieder säuberlich einpacken (und hätten natürlich jetzt das Paket mit Cocablättern vollstopfen können), bevor es in Leintuch eingenäht und versiegelt wurde. Noch ein paar Scheine für’s Porto hinblättern und eine weitere Ladung Souvenirs gingen auf die Reise nach Hause.
Wir kauften uns ein paar äusserst legale Raubkopien aktueller Kinohits auf Video-CD, ein paar Brötchen und ein halbes Poulet. Kinonacht war angesagt. Am allerletzten Abend in La Paz (wir hatten ihn einige Male verschoben) kochten wir Spaghetti in unserem Hostal und luden ein nettes schweizer Bergsteigerpärchen und die baskischen Velöler, die heute ebenfalls hier eintrafen ein, und es wurde einmal mehr ein sehr gemütlicher Abend. Wir hätten bestimmt noch jede Menge anderer Gründe gefunden, um noch ein paar Tage in der belebten Hauptstadt Boliviens zu bleiben.
La Paz – CopacabanaWanderung zur Geburtsstätte der Inkas
Unausgeschlafen krochen wir aus den Federn und schnappten uns ein Taxi nach El Alto. Bereits auf der Fahrt hinunter in den Kessel von La Paz hatten wir beschlossen, nicht mit dem Velo nach oben auf den Altiplano zu kriechen. Fünfhundert Höhenmeter Abgase schlucken und sich von den wilden Colectivos überholen lassen war nichts für uns. Es war grau und kühl in El Alto, auf dessen Hauptstrasse wir langsam Abschied nahmen von La Paz. Es ging anfangs leicht bergab und wir kamen gut voran. Nach einer Kreuzung nahm der Verkehr deutlich ab und durch kleine Dörfer, entlang von kargen Feldern, fuhren wir zum Titicacasee. Nach bloss sechzig Kilometern entschlossen wir uns, eine Bleibe zu suchen. Das Dorf gab nicht gerade viel her, zwei Alojamientos, eines geschlossen, das andere super-basic, völlig überteuert und von einer alten Hexe geführt. Ein Blick in die Kochtöpfe des Comedor Popular überzeugte uns davon, dass heute wohl besser Picknick angesagt ist und wir fragten uns bei der freundlichen Bevölkerung rund um die Plaza durch, um ein paar Esswaren zu finden. Diese verspachtelten wir dann auf den Strohmatten in unserer Kammer.
Für die zweite Etappe nach Copacabana hätten wir eigentlich eine gemütliche Spazierfahrt entlang des Seeufers erwartet. Sie wartete dann allerdings mit etlichen Steigungen und zwei ansprechenden Pässen auf, was widererwarten einen kräftigen Griff in unseren High-Energy-Vorrat erforderte. Es war der Einundzwanzigste Neunte, wir waren nun also genau zwei Jahre unterwegs und würdigten dieses Ereignis auf der Fährüberfahrt über den See mit einem Pack Salzstängeli – eine sehr seltene Delikatesse, die wir hier zufällig gefunden hatten. Nie hätten wir uns bei der Abfahrt ausgerechnet, dass wir so lange auf Achse sein würden aber noch immer geniessen wir jeden Reisetag. Es ist einfach unglaublich herrlich, das Vagabundendasein! Das Wetter stimmte und die heutige Strecke war trotz der paar Schweissperlen sehr schön und abwechslungsreich. In der Abendsonne sahen wir hinunter auf Copacabana, das in einer weiten Bucht vor dem glitzernden Titicacasee lag. Wir liessen sausen, wichen den Schlaglöchern aus und waren schnell am Ziel. Per Velo verschafften wir uns einen kurzen Überblick über das hübsche Städtchen und nisteten uns in einem schönen Hostal ein. Bei leckerer Trucha (Forelle) aus dem See und einer guten Flasche chilenischen Weins stiessen wir auf unser Zweijähriges an.
Dass zwei Jahre lang nicht bloss immer Friede-Freude-Eierkuchen herrscht bei uns beiden, zeigte der nächste Tag, denn nach einer kleinen Auseinandersetzung um nichts Besonderes, gingen wir den grössten Teil des Tages getrennte Wege. Macht ja zwischendurch auch nichts. Als die Sonne unterging, liefen wir uns wieder über den Weg, ein Lächeln und vergessen war’s. Allzu lange können wir wohl nicht böse aufeinander sein und zum Glück passieren solche Zwischenfälle auch nur sehr selten.
Wir vergeudeten noch einen Tag mit Versicherungskram. Langsam müssen wir ein bisschen über die Bücher, was unsere Finanzen anbelangt. Bei der ursprünglichen Idee von ein, anderthalb Jahre reisen fielen die Fixkosten nicht so ins Gewicht. Mittlerweile reissen uns diese aber ein ganz schönes Loch ins Reisebudget. Vor allem in günstigen Ländern wie Bolivien, machen dann diese Kosten bald einmal über die Hälfte des Budgets aus – das kann nun doch wirklich nicht sein! Wir prüften also, zusammen mit unseren lieben Heinzelmännchen zuhause, die sich immer so schön um alles kümmern, Alternativen. Merkwürdigerweise, entgegen den Erwartungen, werden die Träume und Wünsche im Verlaufe einer Reise (zumindest bei uns) nicht etwa kleiner, sondern wir finden immer wieder neue Orte, wo wir gerne hin würden, Länder, die es noch zu entdecken gäbe, Ideen, die es zu verwirklichen gälte. Mal schauen, wo uns dies noch alles hinführt. Pläne haben wir zuhauf – lassen wir uns überraschen.
Mit dem Boot fuhren wir auf die Isla del Sol, auf die der Legende nach der erste Inka gesandt worden sei, um die Welt zu verbessern. Wir machten eine schöne Wanderung vom Süden bis zur Nordspitze des Eilands. Die paar Ruinen waren etwas mager für die Geburtsstätte des Inkareiches, aber die Wanderung auf dem gut präparierten Weg umso schöner. Wir genossen die Aussicht auf den riesigen See und die verschneite Bergkette im Hintergrund. Heute wäre wieder perfektes Bergsteigwetter gewesen – grrr... In einem kleinen Dörfchen am Seeufer übernachteten wir und genossen auf der Terrasse des Hostals einen Tee mit dem Rest der Salzstängeli. Wenn bloss die Kids nicht dauernd so mühsam um uns rumgeschwänzelt wären. Sie verzogen sich allerdings, als das Pack leer war.
Am nächsten Morgen frühstückten wir in der Sonne und bestiegen später mit dem Señor des Hostals einen Viertausender. Das ist ja so einfach hier, wenn der Seespiegel auf über dreitausendachthundert Metern liegt. Er erzählte uns von rituellen Tieropfern, die hier oben noch immer erbracht wurden und anderen Kulthandlungen und Bräuchen, denen die Menschen der Insel noch immer nachleben. Danach gingen wir zur Dorfversammlung und erfuhren von den angereisten Herren aus La Paz neben verlesenen Verträgen, Schlichten von Streitereien und Grenzangelegenheiten, dass die Eintritte, die wir am Vortag zu bezahlen hatten, eigentlich illegal erhoben wurden – tja, so läuft das hier! Wir schauten noch eine Weile dem politischen Treffen zu und machten uns dann auf den Weg zurück zum Bootshafen, von wo aus wir wieder zurück auf’s Festland fuhren.
Bevor wir in ein neues Land aufbrechen wollten, liessen wir unserem Göppel noch einen Beautytag angedeihen. Bereits vor dem Kaffee (man glaubt’s kaum) werkte Brö schon wie verbissen am Tandem rum, polierte, ersetzte und stellte ein. Daneben gab’s natürlich wie immer jede Menge, teilweise etwas saudumme Fragen von interessierten oder ganz einfach gelangweilten hauptsächlich männlichen Zeitgenossen zu beantworten. Entgegen Beteuerungen von Lehrern und Dozenten gibt es sie eben doch, die dummen Fragen! Und zwar, wie es manchmal scheint, mehr als nicht. Mittlerweile gewöhnt man sich aber daran und hat meistens die passenden Antworten parat, überhört das eine oder andere oder wendet seine ausgereifte Technik zur subtilen Beendigung eines Gesprächs an. Patrizia brachte währenddessen das Tagebuch à jour – es konnte also definitiv weitergehen.